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“Elternschule”: Wenn Therapeuten zu weit gehen
Erziehung

“Elternschule”: Wenn Therapeuten zu weit gehen

Kranke Kinder. Kranke Eltern. Der Dokumentarfilm „Elternschule“ könnte über vieles Auskunft geben. Über die Ansprüche unserer Gesellschaft an das Funktionieren von Kindern zum Beispiel. Oder über die Übertragung von Traumata der Eltern auf die Interaktion mit ihren Kindern und Auswege aus dieser Situation. Könnte Auskunft geben. Was bleibt, sind viele offene Fragen.
Mit der drängendsten davon beschäftigt sich nun nach einer Strafanzeige die Staatsanwaltschaft Essen: Werden die Kinder in Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen im Rahmen ihrer Therapie misshandelt? Ein schwerwiegender Verdacht. Wie konnte es dazu kommen?

Aufschrei schon vor Kinostart

Von der großen Öffentlichkeit weitestgehend unbeachtet, lief die Dokumentation „Elternschule“ der Filmemacher Ralf Bücheler und Jörg Adolph bereits im Frühjahr auf dem Münchener Dokumentar-Filmfest. Die Ko-Produktion mit dem SWR erhielt durchweg gute Kritiken. Bücheler und Adolph wird eine gelungene Arbeit bescheinigt sowie ein sensibler Blick auf die kleinen Patientinnen und Patienten und deren Eltern. Eine dieser Rezensionen wird wenige Monate später für einen Aufschrei sorgen. Eine epd-Filmrezension, die in verschiedenen Längen nach und nach von vielen Medien aufgegriffen wird, kommt zu dem Schluss: „Für jeden, der selbst Kinder hat, ist dieser Film ein Muss“. Das scheint man im Verleih Zorro Film auch so zu sehen. Das Zitat wird vor dem Kinostart am 11. Oktober sowohl im Trailer als auch auf der Website des Films zunächst als Werbung genutzt. Nachvollziehbar, schreiben doch die Filmemacher selbst über ihren Film:  „Ein Gesellschaftsbild in Klinikräumen: Wie geht gute Erziehung?

Shitstorm in den Sozialen Medien

Ein Film, der schwer kranke Kinder (und Eltern) zeigt, als „Muss“ für alle Eltern? Ein schmales Brett, über das viele nicht gehen wollen. Ein Sturm der Entrüstung entbrennt in den sozialen Medien, als die Werbemaschine für den Kinostart anläuft. Ein heftiger Sturm, angefacht von zunächst zahlreichen Trailerausschnitten und den dazugehörigen „Lobliedern“, die die Medien auch weiterhin anstimmen. Der Filmverleih versteht sein Handwerk und auch einer der Hauptprotagonisten, Diplompsychologe Dietmar Langer, ist in den Medien keine unbekannte Größe. Oft schon hat er beim SWR und ZDF sowie verschiedenen Printmedien als Erziehungsexperte Tipps gegeben. Langer ist, neben seiner Tätigkeit in besagter Klinik, auch Geschäftsmann in eigener Sache. Er bietet Erziehungskurse, den so genannten „Elternführerschein“ an und ist, gemeinsam mit Dr. Kurt-André Lion, ebenfalls Protagonist des Films, im Bundesvorstand des Vereins Allergie- und Umweltkrankes Kind e.V.. Dort im Portfolio: Vorträge auf DVD, Bücher, Seminare… Nach eigenen Aussagen ist dieser bundesweit tätige Verein „ansprechbar in allen Fragen der Behandlung für Neurodermitis, Asthma, Allergien, Schlaf-, Ess- und Fütterstörungen, chronische Bauch- und Kopfschmerzen sowie Verhaltensauffälligkeiten“. Im Grunde sind damit all jene Fälle benannt, die als Patientinnen und Patienten auch im Rahmen der Therapie in der Kinder- und Jugendklinik in Gelsenkirchen auftauchen. Dorthin kommen, so heißt es in den „FAQs“ zum Film „Elternschule“, die Eltern erst nach hohen Eingangshürden und es wird auf die zum Teil langen Wartelisten verwiesen. Besteht ein Zusammenhang zwischen Wartelisten und bundesweiter Vereinsarbeit?

Moralisches Dilemma

Die Therapie in Gelsenkirchen als ultima ratio? Um welche Eingangshürden es sich handelt, erläutert die Klinik auf Anfrage. Die Eltern waren bei diversen Kinderärzten, haben Beratungsangebote in Anspruch genommen, waren mit ihren Kindern bereits womöglich in einem Schlaflabor, einer Schreiambulanz oder haben Physiotherapie ausprobiert. „Fast alle Eltern“ so heißt es „haben dem Kind das Angebot gemacht, mit im Elternbett zu schlafen oder schlafen mit dem Kind im Kinderbett“. Ohne jeden Zweifel sind die Kinder und Eltern, die in diesem Film gezeigt werden in höchster Not. Und da beginnt das Dilemma: Ist es ethisch vertretbar, diese Kinder so nah zu zeigen? Offensichtlich beantworten Eltern (verzweifelte Eltern), Klinik und Filmemacher diese Frage mit einem klaren „ja“, denn niemand wurde gezwungen, an dem Film mitzuwirken.

Deutscher Kinderschutzbund sieht Gewalt

Zu einem anderen Schluss kommt der Deutsche Kinderschutzbund in einer Stellungnahme: „Nach Ansicht des Verbandes enthält der Film, der in der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen gedreht wurde, zahlreiche Szenen, in denen Kinder psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt sind. In seiner Stellungnahme appelliert der DKSB an alle Bürger*innen, für das Recht auf gewaltfreie Erziehung einzutreten.“ Das sehen auch die Kritikerinnen und Kritiker in den Social Media so. Unter ihnen Kinderarzt und erfolgreiche Publizist Herbert Renz-Polster, der international anerkannte Bindungsforscher Karl Heinz Brisch, sowie die Autorinnen zahlreicher Elternratgeber wie Julia Dibbern, Nicola Schmidt oder Nora Imlau. In den vermeintlich seriösen Medien werden sie als mehr oder minder hysterisch ausgemacht (Die ZEIT) oder einer gezielten Kampagne evangelikaler Strömung zugeordnet (Süddeutsche).

Ihr Ansatz, und auch der des Kinderschutzbundes ist der § 1631 BGB Satz 2. dort steht: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Darin geht es jedoch um die Beziehung zwischen Eltern und Kindern und um Erziehung – nicht um Therapien. Abseits der Intention der Filmemacher, nämlich der, dass sich aus den gezeigten Ausschnitten der Elternschule in der Klinik Dinge „auf das eigene Erziehungshandeln in Zuhause übertragen lassen“, soll der Film ja genau das zeigen: „Menschen in einem therapeutischen Umfeld“.

Und so kommt eine Prüfung des erst vor zwei Jahren zum Zwecke des in das Gesetz aufgenommenen § 1631 b BGB in Frage. Dort geht es um freiheitsentziehende Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen von Kindern. Wenn also Mohammed, ein Kleinkind, eine Dreiviertelstunde von einer Schwester in einer Umklammerung festgehalten wird, man sieht es zunächst und sie berichtet in der Teambesprechung von der Zeitspanne, dann sollte man das durchaus hinterfragen. Grundsätzlich darf ein Mensch, der sich selbst fortbewegen kann, nicht ohne richterliche Verfügung festgehalten werden. Das würde auch gelten, wenn Kinder in Gitterbetten untergebracht würden; nicht zum Zweck der Eigensicherung, sondern lediglich um sie am Verlassen der Situation zu hindern.

Klinik weist Vorwürfe zurück

Die Klinik unterdessen findet die Vorwürfe gegen sie haltlos. Man würde sich an die geltenden Leitlinien halten. Die Kassen zahlen, der Medizinische Dienst prüfe regelmäßig. Schlaftraining, Essverhaltenstraining, Betrachtung von seelischen Ursachen als Krankheitsauslöser… Bis vor Kurzem gab Diplompsychologe Dietmar Langer auf seiner eigenen Website sogar Erfolgsquoten für das von ihm entwickelte Schlafverhaltenstraining (SVT) an. In 90 Prozent der Fälle sei es wirksam. Unterdessen ist seine Seite nicht mehr erreichbar. Auf Rückfrage, wie es zur Erhebung der Erfolgsquoten kommt, antwortet die Klinik „Eine externe Evaluation folgt in Zusammenarbeit mit universitären Institutionen“. Soll heißen: Einen wissenschaftlichen Beleg für die Erfolge von Langer und seinem Team gibt es bisher nicht.

Expertin: „Es gibt modernere Ansätze“

Prof. Dr. rer. nat. Kerstin Konrad, Leiterin des Lehr- und Forschungsgebiets Klinische Neuropsychologie des Kinder- und Jugendalters an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters  des Universitätsklinikums der RWTH Aachen ist Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (dgkjp). Sie hat den Film gesehen und erklärt zum gezeigten Ess- und Schlaftraining: „Hier handelt es sich um verhaltensorientierte Maßnahmen, die zum Teil leitlinienbasiert sind“. Die Expertin sagt aber auch: „Ich finde den Titel „Elternschule“ total unpassend. Hier geht es um eine klinische Therapie, die sehr schablonenhaft angewendet wird. So wird keine in der Umsetzung der verschiedenen Maßnahme keine Unterscheidung nach dem Alter der Kinder oder den Ursachen der eigentlichen Störung getroffen“. Überhaupt sei alles sehr auf das Thema „Macht, Grenzsetzung und Führung zugeschnitten“ was nur noch wenig „state of the art“ (zeitgemäß) sei. „Es gibt bindungsorientierte Ansätze für das Alter und neuere Erkenntnisse zur Behandlung“, erklärt die Fachfrau. Sie verweist auf die Arbeiten von Mechthild und Hanus Papousek aus München, die sich auf dem Gebiet der frühen Eltern-Kind-Beziehung, insbesondere der frühkindlichen Regulationsstörungen und dem exzessiven Schreien im Säuglingsalter verdient gemacht haben. Sie befassen sich unter anderem mit der intuitiven Elternschaft und der dafür erforderlichen Elternbildung, die eben diese Intuition stärkt. Übrigens genau das, worauf sich Herbert Renz-Polster, Karl Heinz Brisch, und die als unqualifiziert abgekanzelten Autorinnen berufen.

Auch das Thema Kinderschutz kommt Professor Konrad in der Dokumentation deutlich zu kurz. Sowohl die Behandlung als auch das Handeln der Eltern und des Pflegepersonals empfindet sie zeitweise als grenzwertig.
Der zweijährige Felix, ein zarter Junge, der als Frühchen geboren wurde und schon Operationen hinter sich hat, hat offensichtlich Angst vor der Nahrungsaufnahme. Einige Tage versucht das Personal ihn mit einer Flasche zu füttern bevor er eine Sonde erhält. Liebevoll-konsequent nennt man diesen Umgang mit den Kindern. Eine solche Störung mit Zwangsfüttern wie im Film gezeigt, zu bekämpfen, hält Professor Konrad nicht für sinnvoll und fasst zusammen: „Das entspricht nicht dem, was wir denken, wie psychische Gesundheit funktioniert“.
Ob und wie leitliniengerecht die Klinik arbeitet, lässt sich ihrer Aussage nach jedoch allein aus dem Film nicht einschätzen. Sie geht davon aus, dass ein großer Teil er Therapie gar nicht gezeigt wird. Das bestätigt auch Diplompsychologe Dietmar Langer in seinen zahlreichen Interviews nach dem Filmstart. Unter anderem auch im Kulturjournal des NDR. Dort erklärt Langer „Der Film bietet nicht alles, zeigt auch nicht alles, zeigt auch gar nicht die Therapie.“ Was der Film dann nun genau zeigen soll, wenn er weder „Ratgeberfilm“ sein will, noch Therapie zeigt, erklären die Filmemacher nicht persönlich. Auch nicht ob Dietmar Langer Einfluss auf die Auswahl der Szenen hatte. Für Nachfragen stehen sie aktuell nicht zur Verfügung – aus Zeitgründen, so heißt es. In den FAQs beschreiben sie ihr Anliegen so: „Hier konnten wir viele Probleme, die unsere Gesellschaft mit ihren Kindern hat (Stress, Unsicherheit in der Erziehung u.v.m.), sowie deren Auflösung, wie durch ein Brennglas an einem Ort beobachten“. Dietmar Langer reagiert ebenfalls nicht auf die Anfragen zu einem persönlichen Gespräch. Im Schriftwechsel mit der Klinik wird diese Frage mehrfach schlicht ignoriert.

Diskussion um gute Erziehung

Eines haben die Dokumentarfilmer erreicht: Es wird diskutiert. Dass das in dieser Form auch in ihrer Absicht lag, scheint eher unwahrscheinlich. Die Kinos jedenfalls sind voll. Oft sind die Vorstellungen ausverkauft, gibt es Sondervorstellungen. Im Publikum: Viel Fachpersonal: Erzieher*innen, Sozialpädagog*innen, verschiedene Therapeuten. Die Dokumentation kommt mit Beipackzettel vom Verleih. Vor Beginn des Film wird nun angesagt, dass es sich um ein therapeutisches Setting handelt, das gezeigt wird und es hier keinesfalls um Erziehungsratschläge gehe. Die Menschen vor der Leinwand wollen trotzdem etwas mitnehmen. Was wenn danach eine Erzieherin in der Kita ein knapp 3-jähriges Kind 45 Minuten kraft ihres Körpers fixiert oder während eines Spaziergangs „liebevoll-konsequent“ mitschleift? Schließlich heißt es in dem Film allgemeingültig: „Ein Kind muss körperlich erleben, was Führung heißt“. Wohlgemerkt: Das jüngste der gezeigten Kinder ist zwei Monate alt. In Gelsenkirchen mag das Therapie heißen. In Kindertageseinrichtungen ist das unter Umständen strafrechtlich relevant.

Neben den offenen Fragen bleibt ein fader Beigeschmack: Während wir über die Kinder und ihre Probleme schonungslos alles erfahren, bleiben die Probleme der Eltern, die oft genug die Ursache für die Störung der Kinder sind oder diese noch verstärken, im Dunkeln.
Nach Angaben der Klinik werden sie nicht nur geschult, sondern durch Fachpersonal auch therapeutisch begleitet. Und so werden nun Mohammed, Felix und Sarah oder Lucy ihr Leben lang von diesen Bildern begleitet. Bundeskanzlerin oder Dax-Vorstand wird man auf diese Weise vielleicht eher nicht. Dennoch ist die Forderung, den Film zu verbieten völlig absurd. Jemand hätte diese Kinder schützen müssen. Bevor der Film entstand. Dass die Eltern das nicht konnten, mag ihrer Verzweiflung geschuldet sein. Dass die Klinik das nicht getan hat, womöglich der Eitelkeit oder Geschäftstätigkeit einzelner Protagonisten. Dass die Filmemacher es nicht getan haben, offenbart Schwächen in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Thema.

Zur letzten offenen Frage: „Wie geht gute Erziehung“ sei nun hier die liebevoll-konsequente Antwort gegeben: So nicht!

Stellungnahme der DGKJP zum Film „Elternschule“


Ihre Leidenschaft gilt dem Wort und den Geschichten, die sich damit erzählen lassen. Sie ist freie Journalistin und Menschenrechtsaktivistin. Elternstimme | factsandfaces

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