Die Schweizer Juristin Carla Del Ponte betrat 1999 die Weltbühne und ging als Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien und den Völkermord in Ruanda nach Den Haag. Zuvor war sie unter anderem Staatsanwältin des Kantons Tessin. Ihr kompromissloses Vorgehen gegen Geldwäsche, organisierte Kriminalität, Waffenschmuggel und grenzüberschreitende Wirtschaftskriminalität trug ihr den Spitznamen Carlita la pesta – die Pest – ein. Sie arbeitete eng mit dem später ermordeten italienischen Richter Giovanni Falcone gegen die Mafia zusammen und entging 1989 im Ferienhaus Falcones nur knapp einem Sprengstoffanschlag. Nach ihrem Rücktritt als Chefanklägerin war sie Botschafterin der Schweiz in Argentinien. 2008 veröffentlichte sie in ihrer Biografie „Im Namen der Anklage“ umfangreiches Material zum Organhandel im Kosovo und sorgte so erneut für internationales Aufsehen. Im Interview mit NITRO spricht die heutige Pensionärin über den Kampf gegen die Mafia, die Jagd auf Kriegsverbrecher und die Suche nach Gerechtigkeit.
Women at Work: Frau del Ponte, im März 2012 wurde der ehemalige kongolesische Rebellenführer Thomas Lubanga Dyilo vom IStGH verurteilt und war damit der erste Kriegsverbrecher, der vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag festgenommen und vor Gericht gestellt wurde. Es ist das erste Urteil, das der IStGH seit seiner Gründung vor knapp zehn Jahren fällte. Frau del Ponte, Sie waren bis 2007 Chefanklägerin am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag – war es für Sie eine Genugtuung, als Sie davon erfuhren?
Carla del Ponte: Es ist wichtig für die internationale Justiz, dass die erste Verurteilung vor dem Internationalen Strafgerichtshof stattgefunden hat. Es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Thomas Lubanga Dyilo war 2005 von den kongolesischen Behörden ver haftet und 2006 nach Den Haag überstellt worden.
Women at Work: Warum dauerte das Verfahren so lange?
Del Ponte: Es handelt sich um komplexe Ermittlungen, die lange Zeit dauern, auch weil die Taten weit entfernt vom Sitz des Gerichtes begangen worden sind. Alle Beweise zu sammeln und sie dann im Prozess vorzulegen, braucht eben eine gewisse Zeit. Eine andere Ursache für die Länge ist die Prozessordnung. Nur ausnahmsweise kann man schriftliche Beweise verwenden, normalerweise müssen alle Beweise dem Gericht vorgeführt werden, und das ist schwierig und nimmt viel Zeit in Anspruch.
Women at Work: Am IStGH waren Sie Chefanklägerin für Ruanda, sollten den Völkermord an 1 000 000 Menschen aufklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. In Ruanda wurden in nur 100 Tagen etwa 75 Prozent der Tutsi-Minderheit abgeschlachtet. Ist die Dimension eines solchen Verbrechens überhaupt begreifbar, verkraftbar?
Del Ponte: Völkermord ist eines der grausamsten kriminellen Verbrechen, denen man begegnen kann. Nach Nürnberg hatte man gesagt „nie mehr“ und doch wiederholt sich der Völkermord und man kann nicht begreifen, wie das möglich ist. Deshalb ist es wichtig, dass die Verantwortlichen an
geklagt werden und vor Gericht stehen. Die Täter kamen aus den Reihen der ruandischen Armee, der Präsidentengarde, der Nationalpolizei und der Verwaltung.
Women at Work: Wie weit waren Ihre Ermittlungen, als Sie 2007 den IStGH verließen?
Del Ponte: In meiner Amtszeit wurden die hohen militärischen und politischen Verantwortlichen fast alle verhaftet und vor Gericht gestellt. Alle Mitglieder der Ruandischen Regierung der damaligen Zeit sind verurteilt worden, aber einige wichtige Akteure sind noch auf der Flucht. Sie werden mit internationalem Haftbefehl gesucht.
Women at Work: In Den Haag setzten Sie durch, dass Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen geahndet werden. Warum war das nicht von Anfang an selbstverständlich?
Del Ponte: Einfach deshalb, weil es nicht ausdrücklich im Gesetz erwähnt war, und somit mussten wir eine Interpretation des Gerichtes erlangen. Das geschah zuerst im Ruanda-Tribunal, und es war für die Opfer solcher Vergewaltigungen ein sehr wichtiges Signal.
Women at Work: Die Fernsehberichterstattung über die Vernehmungen und Verhandlungen macht oft sehr deutlich, mit welcher Respektlosigkeit angeklagte Verbrecher den Anwälten und Richtern gegenübertreten. Wie sind Sie damit umgegangen, was kann eine Demokratie mit ihren Mitteln dagegen tun?
Del Ponte: Die Demokratie spielt hier keine Rolle. Es ist die Strafprozessordnung, die die Durchführung des Prozesses regelt, und der Präsident des Gerichtshofes entscheidet im Verfahren. Meine Mitarbeiter und ich duldeten solche Respektlosigkeiten im Gerichtssaal nicht, vor allem im Bezug auf die Opfer. Ich gebe Ihnen aber recht, dass mit Angeklagten manchmal sehr großzügig umgegangen wird. Darüber war ich oft verärgert. Aber am Schluss ist nur wichtig, dass eine Verurteilung erfolgt.
Women at Work: Wie viel Mut braucht es, wenn man beispielsweise gegen Kriegsverbrecher wie den serbischen Ex-Präsidenten Slobodan Milosevic ermittelt?
Del Ponte: Es geht nicht um Mut, es ist die Gleichbehandlung aller Angeklagten, nach dem Gesetz. Vor allem muss man Fehler vermeiden.
Women at Work: Was dachten, was fühlten Sie, als Sie von seinem Tod in der Gefängnis-Zelle erfuhren?
Del Ponte: Ich war sehr frustriert, denn ich wusste, wie gut er medizinisch behandelt wurde. Meine Gedanken waren sofort bei den Opfern, besonders bei den Müttern von Srebrenica, die mich ausdrücklich um eine Verurteilung von Milosevic gebeten hatten.
Women at Work: Der angeklagte General Mladić, verantwortlich für das Massaker von Srebrenica, soll angeblich schwer krank sein, und das Verfahren zieht sich in die Länge. Haben Sie noch Hoffnung, dass er trotzdem zur Verantwortung gezogen wird?
Del Ponte: Sicher, denn es hat sich oft heraus gestellt, dass die Inhaftierten durch die gute medizinische Versorgung rasch gesund geworden sind. Ich glaube und hoffe das gleiche auch für Mladić.
Women at Work: In Libyen hatte das Volk die Chance, den verhassten Machthaber Gaddafi vor ein Gericht zu stellen, doch er wurde nach der Gefangennahme sofort getötet. Können Sie das nachvollziehen?
Del Ponte: Es wäre viel besser gewesen, wenn er am Leben geblieben wäre, denn nur so hätte man die Wahrheit herausfinden können und er hätte die Gelegenheit gehabt, sich zu verteidigen und im besten Fall seine Verbrechen zu bereuen.
Women at Work: Ihrer Meinung nach müssen Staaten, in denen Verbrechen geschehen sind, ihre Vergangenheit vor Gericht aufarbeiten, sonst scheitern sie. Haben Sie dafür konkrete Beispiele?
Del Ponte: In den Gerichtshöfen tritt die Wahrheit der Fakten an den Tag und die richtige Geschichte wird geschrieben. Revisionisten und Negazionisten, die einen Völkermord leugnen, haben keine Chance. Die Staaten müssen ihre eigene Vergangenheit akzeptieren sein und dies ist ein wichtiger Schritt für die Demokratie. Den Völkermord an den Armeniern aufzuarbeiten wäre auch für die der Türkei ein wichtiger Schritt dahin.
Women at Work: Im Film „Sturm“ von Hans-Christian Schmid vertritt die Chefanklägerin des Jugoslawien-Tribunals die Meinung: „Ich interessiere mich nicht für Politik, ich bin für die Anwendung des geltenden Rechts verantwortlich.“ Empfinden Sie das nicht als geradezu zynisch?
Del Ponte: Nein, dass habe ich auch immer gesagt und meine Erfahrung hat mir immer Recht gegeben.
Women at Work: Robert Jackson, amerikanischer Ankläger bei den Nürnberger Prozessen, sagte, dass „nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden“. Stimmen Sie dem zu?
Del Ponte: Ja, und zwar vollkommen.
Women at Work: Als Staatsanwältin in der Schweiz ermittelten Sie an der Seite des Mafia-Jägers Giovanni Falcone. Konnten Sie am Abend nach getaner Arbeit und immer neuen Schandtaten, die Sie aufdeckten, ruhig einschlafen?
Del Ponte: Zum Glück konnte ich immer ruhig einschlafen, eben weil ich nur nach dem Gesetz handelte und nie Politik betrieben habe.
Women at Work: Gibt es etwas, das Sie von Falcone gelernt haben?
Del Ponte: Ja, eine gute Kenntnis der Mafia-Welt und wie man am besten vorgeht bei den Einvernahmen der Angeklagten. Es war für mich eine sehr gute Schule.
Women at Work: Sie entkamen in Italien knapp einem Sprengstoffanschlag, in Belgrad wurde auf Sie geschossen. Wie oft war ihr Leben in Gefahr?
Del Ponte: Es waren einige Male, aber zum Glück hatte ich immer einen guten Schutzengel bei mir.
Women at Work: Hatten Sie Angst um Ihren Sohn?
Del Ponte: Es wurde alles getan, ihn zu schützen. Er trägt auch einen anderen Namen als ich und hielt sich immer fern von den Orten des Geschehens. Trotzdem gab es auch Momente der Angst, aber alles ist gut gegangen.
Women at Work: Sie waren die berühmteste Anklägerin der Welt, befinden sich inzwischen aber im sogenannten Ruhestand. Für uns unvorstellbar. Für Sie auch?
Del Ponte: Nein, ich bin glücklich in Pension und kann endlich Golf spielen und viele andere Dinge tun, von denen ich damals nur träumen konnte. Natürlich habe ich immer noch Kontakt mit der Welt der Internationalen Justiz.
Women at Work: Glauben Sie, dass wir irgendwann in einer gerechteren Welt leben werden?
Del Ponte: Ja, ich hoffe es und finde, wir sind auf einem gutem Weg, aber der ist leider noch sehr lang.
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