Ich bin Lehrerin in Tokio und in der Rushhour unterwegs. Ich stehe in der Bahn, eng an andere Menschen gedrängt, die an ihren Arbeitsplatz pendeln und sich erbarmungslos in überfüllte Zugabteile drängeln. Es ist heiß und stickig in meinem Wagon. Mir wird leicht schwindelig. Ich kann kaum atmen. Meine Tasche wiegt schwer. Ich schaue auf den Info-Bildschirm. Nur noch zwei Stationen bis Shinjuku, dann kommt endlich wieder frische Luft in meine Lungen. Plötzlich stoppt der Zug. Mitten auf den Gleisen, genau zwischen zwei Haltestellen, völlig unvermittelt. Ungeplanter Nothalt. Grund: passenger injury.
Ich wundere mich schon lange nicht mehr, warum auf dem JR-Info-Bildschirm regelmäßig steht, dass viele Menschen in den Zügen oder an Bahngleisen verletzt werden. Mittlerweile ist mir nämlich klar, dass »passenger injury« ein Code ist. Ein Code für Selbstmord.
Es hat sich mal wieder jemand auf die Schienen geworfen, in der Konsequenz bedeutet das, mindestens einen Zugfahrer und zahlreiche Rettungskräfte sind traumatisiert und tausende Menschen kommen zu spät zur Arbeit. Irgendwie ist das Gelebte Tradition. Moderne Bushido-Kultur. Denn: In Japan ist der Suizid ist immer noch ehrenhafter als die Schmach einer Kündigung. Und 過労死 (Karōshi) existiert schon seit Jahrzehnten und wird großgesellschaftlich achselzuckend hingenommen. Seit es diese klinische Bezeichnung, den »Tod durch Überarbeitung«, auch in Gesetzestexten gibt, legen zwar spezielle Paragraphen fest, dass ein Erwachsener maximal 60 Stunden die Woche arbeiten darf, aber es gibt ein geschicktes Schlupfloch. Maximale Arbeitszeit für den normalen Angestellten 60 Wochenstunden – außer er möchte es anders. Und er möchte es genau dann anders, wenn sein Chef ihm sagt, dass er es anders möchte. An der Autoritätshörigkeit der Japaner scheitert das Gesetz.
Master and Commander
»Your boss is your commander, you are his soldier«, war einer der ersten Sätze, die mir ein potenzieller Arbeitgeber in Japan beim Vorstellungsgespräch zu verstehen gegeben hat. Alles klar, höflich vor einander verbeugen, nie wieder ein Wort von mir hören lassen. Such’ dir wegen mir einen anderen Soldaten, ich zieh’ für dich jedenfalls in keinen Krieg. Aber ein Japaner, der tut es. Denn er beugt sich dem Druck der Autorität. Er wurde so sozialisiert. Schon in der Schule wurde ihm eingebläut, 先生 (Sensei; Lehrer) auf keinen Fall zu widersprechen. Eine clever kalkulierte Vorbereitung auf den japanischen Arbeitsmarkt. Denn auch hier wird dem Chef niemals die Stirn geboten. Außer man ist ein 外人 (Gaijin; Ausländer), so wie ich.
Mein jetziger Arbeitgeber wollte zwar keinen Soldaten, aber – wie ich neulich feststellen durfte – einen permanent »Ja«-sagenden Roboter. Zur Vollzeitstelle gab es als Geschenkt ein zweiseitiges Din A4 Dokument mit feingliedrigem Regelwerk. Times New Roman, Schriftgrad 11. Es enthielt ein paar Regeln, wie ich bei der Arbeit nicht aussehen darf. Der Rest erfolgte dann mündlich.
- Während der Arbeitszeit darf nicht getrunken werden.
- In den Räumlichkeiten darf keine Mittagspause gemacht werden.
- Mit meinem Studenten darf ich privat keine zwei Worte wechseln.
- Privat solle ich darauf achten, dass keine der Rezeptionistinnen meine grünen Haare sieht. I
Ich nickte und dachte mir meinen Teil. Kompetenzüberschreitung, lieber Boss, mach’ dich nicht lächerlich.
Aber heute sitze ich da, im Klassenzimmer, mit Schutzmaske, Schluckschmerzen und Fieber, dafür ohne Make-Up, Stimme oder Energie. Ich war pünktlich, trotz »passenger injury«. Meine Tasche war so schwer. Schwer von den ganzen Materialien, die ich heute Nacht vorbereitet habe. Durch den höllischen Schmerz beim Schluckvorgang war mir gerade einmal eine Stunde Schlaf vergönnt. Und weil mir klar war, dass ich am nächsten Tag ohne Stimme dastehen würde, schaltete ich in den dunklen Morgenstunden das Licht an und arbeitete allerhand schriftliche Aufgabenstellungen aus. Damit mein Student etwas zu tun hat, während ich schweigend neben ihm sitze wie ein Häufchen Elend und nichts weiter tue als meine Bakterien im Raum zu verteilen. Und weil mir klar war, dass der Tag genau so ineffizient sein würde, wie er letzten Endes war, gab ich meinem Chef schon am Vorabend Bescheid, dass ich übermorgen nicht kommen könne. Seine Reaktion: ich sei faul, Krankheit sei keine Entschuldigung, ich würde ihn im Stich lassen. Verantwortungsbewusst wie ich bin, suchte ich selbst nach Ersatz für meinen Ausfall. Böser Fehler. Darf ich nicht, darf nur er. Weil er aber niemanden findet, teilt er mir zehn Minuten später mit, ich solle doch endlich in die Pötte kommen und Ersatz ausfindig machen. Und damit geht die Auseinandersetzung erst richtig los.
Die Arbeit ist dein Leben
So kannst du vielleicht mit Japanern reden, aber nicht mit Deutschen. Zeigst du mir keinen Respekt, verliere ich meinen Respekt vor dir. Chef hin oder her. Aber der japanische Chef darf sich alles erlauben. Der Arbeitnehmer ist selbst schuld, wenn er es sich tatsächlich und schamlos leistet, zu erkranken. Der Japaner nimmt fiebersenkende Medikamente und schleppt sich weiterhin zur Arbeit.
Dabei verschleppt er seine Influenza und stirbt überraschend an einem Herzinfarkt. 過労死 (Karōshi) eben. Kann ja mal vorkommen. Passiert dem Arbeitnehmer sicher kein zweites Mal. Der Deutsche liest sich mit deutscher Genauigkeit seinen Arbeitsvertrag durch und weiß, dass er im Krankheitsfall zu Hause bleiben darf – nein, sogar soll, wenn er an einer übertragbaren Infektionskrankheit leidet. Das entgegne ich meinem Chef. Böser Fehler. Ich handle unethisch. Eine Arbeit, die angefangen ist, müsse auch zu Ende gebracht werden, egal was mit dem Arbeitnehmer oder seiner Familie passieren mag. Die Arbeit ist sein Leben. Es gibt kein Leben daneben. Es gibt nur Arbeit. Bis es kein Leben mehr gibt.
Work-Life-Balance? Für Japaner ein Fremdwort. Es wird gearbeitet, bis der Tod eintritt – oder dem Leben vorgezogen wird. Einem trostlosen Leben voller Gleichschaltung, innerer Leere und Armut an sozialen Kontakten. Die Flucht in den Alkohol –in Japan ein ernst zu nehmendes Problem der Masse – kompensiert dieses Ungleichgewicht leider nur spärlich. Daher scheint der Sprung aus dem Fenster aus einem von Tokios Wolkenkratzern immer verlockender zu werden. Weil dieser Verlockung in der Vergangenheit zu viele Menschen nachgegeben haben, geht in Tokio ab dem zweiten Stock in keinem Büroraum mehr ein Fenster auf.
Ich arbeite im Erdgeschoss. Übrigens ohne Fenster. Aber selbst wenn ich eins hätte, würde ich nicht hinausspringen. Ich sage meinem Chef lieber ins Gesicht, dass es ihm freistünde, für meine Stelle eine neue Besetzung zu finden, wenn er nicht damit einverstanden ist, mich respektvoll zu behandeln und zu akzeptieren, dass mir meine Gesundheit wichtiger als meine Arbeit ist. In solchen Situationen rudert er schnell zurück, entschuldigt sich bei mir und glättet mit Bedacht alle Wogen. Warum? Er weiß genau, dass er für den Job niemand anderen auftreiben kann – und er weiß, dass ich das weiß. Ohne mich kann er nicht einmal einen einmaligen Ein-Tages-Ersatz für die Firma finden. Ich behalte ich die Oberhand, fühle ich aber trotzdem unterirdisch. Wie der Tod auf Urlaub schwebe ich nach dieser anstrengenden und konfliktbehafteten Mittagspause zurück in mein Klassenzimmer. Mein Student war in der Apotheke, hat mir Medikamente gekauft und sagt alle zehn Minuten, ich solle ins Krankenhaus gehen. Er selbst hat sich eine Schutzmaske gekauft, er möchte nicht von mir angesteckt werden. Wenigstens ein Japaner hier in dieser Filiale, dem seine Gesundheit wichtiger ist als die Arbeit. Nette Abwechslung.
Die Ausnahme, die die traurige Regel bestätigt
»Hier sterben so viele Menschen wegen ihrer Arbeit«, erzählt er mir. Die Politik müsse eingreifen. Besser noch durchgreifen., damit niemand mehr von 8 bis 22 Uhr an sechs Tagen in der Woche arbeiten muss.
- Damit niemand mehr Angst davor hat, seinen gesetzlich festgelegten Urlaub in Anspruch zu nehmen, weil es als unethisch angesehen wird.
- Damit niemand mehr die Verpflichtung verspürt, für weniger Geld länger im Büro zu sitzen als der Chef, der ja eigentlich mehr Geld verdient und deswegen rein rechnerisch etwas länger bleiben müsste.
- Damit Väter ihre Kinder unter der Woche zu Gesicht bekommen.
- Damit Frauen nicht nur かわいい (kawaii; niedlich), weich in der Birne und gegenüber dem männlichen Chef folgsam sein müssen.
- Damit es wieder mehr Leben in Japan gibt.
- Damit das Leben in Japan wieder lebenswerter wird.
- Damit es weniger »passenger injuries« gibt.
- Damit der Bushido-Kult aufhört.
- Damit die Faszination um 切腹 (Seppuku; ritueller Selbstmord, im Westen besser als »Harakiri« bekannt) endlich abreißt.
Viele Japaner, besonders junge Japaner, die gern nach Amerika oder Europa schauen, wünschen sich einen Wandel in ihrer Arbeitskultur. Sie alle beschweren sich. Privat. Und leise. Keiner fängt an, wenn es darum geht, gegen die althergebrachte Autorität das Wort zu erheben. Keiner. Außer mein Student. Der nimmt sein Handy in die Hand, ruft seinen Chef, den Chef meines Chefs, an und setzt sich für mich ein. Vielleicht sieht ja so der Anfang einer Revolution aus. Immerhin fängt alles erst mal nur mit einem Menschen an. Und schlägt dann hoffentlich Wellen. Hoffentlich in Richtung deutsche Arbeitskultur, mit Betriebsrat und Gewerkschaften, eingehaltener 40-Stunden-Woche und Elternzeit. Aber vor allem hoffentlich in Richtung der selbstbewussten und vernünftigen Widerworte gegen die hochheilige Obrigkeit.
Work-Life-Balance auf japanisch oder arbeite bis du stirbst
Ich bin Lehrerin in Tokio und in der Rushhour unterwegs. Ich stehe in der Bahn, eng an andere Menschen gedrängt, die an ihren Arbeitsplatz pendeln und sich erbarmungslos in überfüllte Zugabteile drängeln. Es ist heiß und stickig in meinem Wagon. Mir wird leicht schwindelig. Ich kann kaum atmen. Meine Tasche wiegt schwer. Ich schaue auf den Info-Bildschirm. Nur noch zwei Stationen bis Shinjuku, dann kommt endlich wieder frische Luft in meine Lungen. Plötzlich stoppt der Zug. Mitten auf den Gleisen, genau zwischen zwei Haltestellen, völlig unvermittelt. Ungeplanter Nothalt. Grund: passenger injury.
Ich wundere mich schon lange nicht mehr, warum auf dem JR-Info-Bildschirm regelmäßig steht, dass viele Menschen in den Zügen oder an Bahngleisen verletzt werden. Mittlerweile ist mir nämlich klar, dass »passenger injury« ein Code ist. Ein Code für Selbstmord.
Es hat sich mal wieder jemand auf die Schienen geworfen, in der Konsequenz bedeutet das, mindestens einen Zugfahrer und zahlreiche Rettungskräfte sind traumatisiert und tausende Menschen kommen zu spät zur Arbeit. Irgendwie ist das Gelebte Tradition. Moderne Bushido-Kultur. Denn: In Japan ist der Suizid ist immer noch ehrenhafter als die Schmach einer Kündigung. Und 過労死 (Karōshi) existiert schon seit Jahrzehnten und wird großgesellschaftlich achselzuckend hingenommen. Seit es diese klinische Bezeichnung, den »Tod durch Überarbeitung«, auch in Gesetzestexten gibt, legen zwar spezielle Paragraphen fest, dass ein Erwachsener maximal 60 Stunden die Woche arbeiten darf, aber es gibt ein geschicktes Schlupfloch. Maximale Arbeitszeit für den normalen Angestellten 60 Wochenstunden – außer er möchte es anders. Und er möchte es genau dann anders, wenn sein Chef ihm sagt, dass er es anders möchte. An der Autoritätshörigkeit der Japaner scheitert das Gesetz.
Master and Commander
»Your boss is your commander, you are his soldier«, war einer der ersten Sätze, die mir ein potenzieller Arbeitgeber in Japan beim Vorstellungsgespräch zu verstehen gegeben hat. Alles klar, höflich vor einander verbeugen, nie wieder ein Wort von mir hören lassen. Such’ dir wegen mir einen anderen Soldaten, ich zieh’ für dich jedenfalls in keinen Krieg. Aber ein Japaner, der tut es. Denn er beugt sich dem Druck der Autorität. Er wurde so sozialisiert. Schon in der Schule wurde ihm eingebläut, 先生 (Sensei; Lehrer) auf keinen Fall zu widersprechen. Eine clever kalkulierte Vorbereitung auf den japanischen Arbeitsmarkt. Denn auch hier wird dem Chef niemals die Stirn geboten. Außer man ist ein 外人 (Gaijin; Ausländer), so wie ich.
Mein jetziger Arbeitgeber wollte zwar keinen Soldaten, aber – wie ich neulich feststellen durfte – einen permanent »Ja«-sagenden Roboter. Zur Vollzeitstelle gab es als Geschenkt ein zweiseitiges Din A4 Dokument mit feingliedrigem Regelwerk. Times New Roman, Schriftgrad 11. Es enthielt ein paar Regeln, wie ich bei der Arbeit nicht aussehen darf. Der Rest erfolgte dann mündlich.
- Während der Arbeitszeit darf nicht getrunken werden.
- In den Räumlichkeiten darf keine Mittagspause gemacht werden.
- Mit meinem Studenten darf ich privat keine zwei Worte wechseln.
- Privat solle ich darauf achten, dass keine der Rezeptionistinnen meine grünen Haare sieht. I
Ich nickte und dachte mir meinen Teil. Kompetenzüberschreitung, lieber Boss, mach’ dich nicht lächerlich.
Aber heute sitze ich da, im Klassenzimmer, mit Schutzmaske, Schluckschmerzen und Fieber, dafür ohne Make-Up, Stimme oder Energie. Ich war pünktlich, trotz »passenger injury«. Meine Tasche war so schwer. Schwer von den ganzen Materialien, die ich heute Nacht vorbereitet habe. Durch den höllischen Schmerz beim Schluckvorgang war mir gerade einmal eine Stunde Schlaf vergönnt. Und weil mir klar war, dass ich am nächsten Tag ohne Stimme dastehen würde, schaltete ich in den dunklen Morgenstunden das Licht an und arbeitete allerhand schriftliche Aufgabenstellungen aus. Damit mein Student etwas zu tun hat, während ich schweigend neben ihm sitze wie ein Häufchen Elend und nichts weiter tue als meine Bakterien im Raum zu verteilen. Und weil mir klar war, dass der Tag genau so ineffizient sein würde, wie er letzten Endes war, gab ich meinem Chef schon am Vorabend Bescheid, dass ich übermorgen nicht kommen könne. Seine Reaktion: ich sei faul, Krankheit sei keine Entschuldigung, ich würde ihn im Stich lassen. Verantwortungsbewusst wie ich bin, suchte ich selbst nach Ersatz für meinen Ausfall. Böser Fehler. Darf ich nicht, darf nur er. Weil er aber niemanden findet, teilt er mir zehn Minuten später mit, ich solle doch endlich in die Pötte kommen und Ersatz ausfindig machen. Und damit geht die Auseinandersetzung erst richtig los.
Die Arbeit ist dein Leben
So kannst du vielleicht mit Japanern reden, aber nicht mit Deutschen. Zeigst du mir keinen Respekt, verliere ich meinen Respekt vor dir. Chef hin oder her. Aber der japanische Chef darf sich alles erlauben. Der Arbeitnehmer ist selbst schuld, wenn er es sich tatsächlich und schamlos leistet, zu erkranken. Der Japaner nimmt fiebersenkende Medikamente und schleppt sich weiterhin zur Arbeit.
Dabei verschleppt er seine Influenza und stirbt überraschend an einem Herzinfarkt. 過労死 (Karōshi) eben. Kann ja mal vorkommen. Passiert dem Arbeitnehmer sicher kein zweites Mal. Der Deutsche liest sich mit deutscher Genauigkeit seinen Arbeitsvertrag durch und weiß, dass er im Krankheitsfall zu Hause bleiben darf – nein, sogar soll, wenn er an einer übertragbaren Infektionskrankheit leidet. Das entgegne ich meinem Chef. Böser Fehler. Ich handle unethisch. Eine Arbeit, die angefangen ist, müsse auch zu Ende gebracht werden, egal was mit dem Arbeitnehmer oder seiner Familie passieren mag. Die Arbeit ist sein Leben. Es gibt kein Leben daneben. Es gibt nur Arbeit. Bis es kein Leben mehr gibt.
Work-Life-Balance? Für Japaner ein Fremdwort. Es wird gearbeitet, bis der Tod eintritt – oder dem Leben vorgezogen wird. Einem trostlosen Leben voller Gleichschaltung, innerer Leere und Armut an sozialen Kontakten. Die Flucht in den Alkohol –in Japan ein ernst zu nehmendes Problem der Masse – kompensiert dieses Ungleichgewicht leider nur spärlich. Daher scheint der Sprung aus dem Fenster aus einem von Tokios Wolkenkratzern immer verlockender zu werden. Weil dieser Verlockung in der Vergangenheit zu viele Menschen nachgegeben haben, geht in Tokio ab dem zweiten Stock in keinem Büroraum mehr ein Fenster auf.
Ich arbeite im Erdgeschoss. Übrigens ohne Fenster. Aber selbst wenn ich eins hätte, würde ich nicht hinausspringen. Ich sage meinem Chef lieber ins Gesicht, dass es ihm freistünde, für meine Stelle eine neue Besetzung zu finden, wenn er nicht damit einverstanden ist, mich respektvoll zu behandeln und zu akzeptieren, dass mir meine Gesundheit wichtiger als meine Arbeit ist. In solchen Situationen rudert er schnell zurück, entschuldigt sich bei mir und glättet mit Bedacht alle Wogen. Warum? Er weiß genau, dass er für den Job niemand anderen auftreiben kann – und er weiß, dass ich das weiß. Ohne mich kann er nicht einmal einen einmaligen Ein-Tages-Ersatz für die Firma finden. Ich behalte ich die Oberhand, fühle ich aber trotzdem unterirdisch. Wie der Tod auf Urlaub schwebe ich nach dieser anstrengenden und konfliktbehafteten Mittagspause zurück in mein Klassenzimmer. Mein Student war in der Apotheke, hat mir Medikamente gekauft und sagt alle zehn Minuten, ich solle ins Krankenhaus gehen. Er selbst hat sich eine Schutzmaske gekauft, er möchte nicht von mir angesteckt werden. Wenigstens ein Japaner hier in dieser Filiale, dem seine Gesundheit wichtiger ist als die Arbeit. Nette Abwechslung.
Die Ausnahme, die die traurige Regel bestätigt
»Hier sterben so viele Menschen wegen ihrer Arbeit«, erzählt er mir. Die Politik müsse eingreifen. Besser noch durchgreifen., damit niemand mehr von 8 bis 22 Uhr an sechs Tagen in der Woche arbeiten muss.
- Damit niemand mehr Angst davor hat, seinen gesetzlich festgelegten Urlaub in Anspruch zu nehmen, weil es als unethisch angesehen wird.
- Damit niemand mehr die Verpflichtung verspürt, für weniger Geld länger im Büro zu sitzen als der Chef, der ja eigentlich mehr Geld verdient und deswegen rein rechnerisch etwas länger bleiben müsste.
- Damit Väter ihre Kinder unter der Woche zu Gesicht bekommen.
- Damit Frauen nicht nur かわいい (kawaii; niedlich), weich in der Birne und gegenüber dem männlichen Chef folgsam sein müssen.
- Damit es wieder mehr Leben in Japan gibt.
- Damit das Leben in Japan wieder lebenswerter wird.
- Damit es weniger »passenger injuries« gibt.
- Damit der Bushido-Kult aufhört.
- Damit die Faszination um 切腹 (Seppuku; ritueller Selbstmord, im Westen besser als »Harakiri« bekannt) endlich abreißt.
Viele Japaner, besonders junge Japaner, die gern nach Amerika oder Europa schauen, wünschen sich einen Wandel in ihrer Arbeitskultur. Sie alle beschweren sich. Privat. Und leise. Keiner fängt an, wenn es darum geht, gegen die althergebrachte Autorität das Wort zu erheben. Keiner. Außer mein Student. Der nimmt sein Handy in die Hand, ruft seinen Chef, den Chef meines Chefs, an und setzt sich für mich ein. Vielleicht sieht ja so der Anfang einer Revolution aus. Immerhin fängt alles erst mal nur mit einem Menschen an. Und schlägt dann hoffentlich Wellen. Hoffentlich in Richtung deutsche Arbeitskultur, mit Betriebsrat und Gewerkschaften, eingehaltener 40-Stunden-Woche und Elternzeit. Aber vor allem hoffentlich in Richtung der selbstbewussten und vernünftigen Widerworte gegen die hochheilige Obrigkeit.
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