Mit der europäischen Arbeitnehmerfreizügigkeit verbindet sich oft die Hoffnung auf wirtschaftlichen Ausgleich in einer unvollkommenen Währungsunion. Andererseits weckt sie Ängste vor ungesteuerter Zuwanderung und Sozialtourismus. Doch zeigt ein Blick auf die Statistik, dass sich die grenzüberschreitende Mobilität der EU-Bürger weiterhin auf einem vergleichsweise geringen Niveau bewegt. Das wurde auch in der Krise deutlich: Hohe Arbeitslosenquoten in den Krisenländern haben bisher nur zu relativ geringer Auswanderung in wirtschaftlich stärkere Länder geführt. Der Hauptstrom führt weiterhin von Ost nach West. Als Lehre aus der Krise sollten Kommission und Mitgliedstaaten die vorhandenen Instrumente grenzübergreifender Arbeitsvermittlung optimieren und längerfristige Schritte zur Förderung der Arbeitsmobilität unternehmen.
Fokus
Der Wanderungssaldo der Peripherieländer zeigt deutlich den Einfluss der Wirtschaftskrise. Die Zuwanderung ging gegenüber den Vorkrisenjahren stark zurück oder wurde sogar negativ, da Ausländer in ihre Heimatländer zurückkehrten. Gleichzeitig stieg die Abwanderung einheimischer Arbeitskräfte, wenn auch weniger stark als von vielen vermutet.
1. Einführung
Die Freizügigkeit ist eine der Grundlagen der Europäischen Union – und einer Eurobarometer-Erhebung zufolge eine ihrer beliebtesten Errungenschaften. Seit ihrer Gründung ist dieses Recht stetig erweitert worden, insbesondere hinsichtlich mobiler EU-Arbeitskräfte: Die Schranken, die der Arbeitsmobilität entgegenstanden, wurden im Rahmen des Binnenmarktes mehr und mehr abgebaut, auch als Mittel, die EU2020-Ziele intelligenten und inklusiven Wachstums zu erreichen. Und doch herrscht in Wissenschaft und Politik die Ansicht vor, die Arbeitsmobilität innerhalb der EU sei zu niedrig – zu gering, um mehr zum einheitlichen europäischen Arbeitsmarkt denn als bloße Idee beizutragen, zu gering, um die Eurozone nach der Krise wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Verglichen mit den USA ist die Arbeitsmobilität in der Europäischen Union tatsächlich gering: Kaum 3 Prozent der EUBürger wohnen derzeit in einem anderen EU-Land; das ist nur ein Zehntel der Vergleichsgröße jenseits des Atlantiks. Gleiches gilt für die jährlichen zwischenstaatlichen Mobilitätsströme, die noch nicht einmal 0,3 Prozent der EU-Bevölkerung ausmachen – auch hier nur ein Zehntel der entsprechenden US-Daten (Barslund und Busse 2014).
Allerdings steht Europa bei Vergleichen mit den Vereinigten Staaten fast zwangsläufig schlechter da: Grund sind Sprachbarrieren, kulturelle Unterschiede, Disparitäten in den Bildungssystemen und die fehlenden grenzübergreifenden persönlichen Bindungen. Dennoch könnte eine mobilere europäische Erwerbsbevölkerung deutlichen Nutzen bringen, auch könnte mehr getan werden, um die Mobilitätsbereiten zu unterstützen (Bertelsmann Stiftung 2014).
In den Herkunftsländern herrschen vor allem Bedenken, dass gerade die Besten auswandern und damit die Humankapitalbasis, langfristiges Wachstum und die Entwicklung schwächen könnten.
Selbst die anscheinend geringe Arbeitsmobilität in der EU wird in den letzten Jahren kontrovers diskutiert. In der öffentlichen Debatte in einigen Ländern entsteht der Eindruck, dass immer mehr Menschen auf der Suche nach Arbeit und Sozialleistungen ihr Land verlassen, insbesondere seit der Erweiterung und der vollen Freizügigkeit für Osteuropäer. Gleichzeitig gibt es Befürchtungen, dass gerade die besten Arbeitskräfte auswandern und dadurch das langfristige Wachstum und die Entwicklung in den Herkunftsländern schwächen.
2. Arbeitsmobilität während der Wirtschaftskrise
Motor der innergemeinschaftlichen Mobilität im letzten Jahrzehnt war die große Einkommenskluft zwischen den alten Mitgliedstaaten (EU15) und den neuen Mitgliedstaaten im Osten (EU10), die seit 2004 hinzugekommen sind. In den meisten EU15-Ländern wurden vorübergehende Beschränkungen eingeführt, die die Mobilitätsströme während dieses Zeitraums teilweise umgelenkt haben. Dies war etwa der Fall bei polnischen Auswanderern, die statt des traditionellen Ziellandes Deutschland eher Irland oder Großbritannien angesteuert haben, wo es keine Einschränkungen gab (Baas und Brücker 2012). Für Bulgaren und Rumänen galten solche Beschränkungen bis 2014 mit wenigen Ausnahmen in allen EU15-Ländern.
Die Abwanderung aus den EU10-Ländern war in der Tat beträchtlich. Aus Polen und Lettland gingen von 2004 bis 2008 jährlich mehr als 0,5 Prozent der heimischen Bevölkerung ins EU15-Ausland. Die jährliche Abwanderung aus Litauen erreichte 1 Prozent der Bevölkerung, die aus Bulgarien nahezu 1,5 Prozent (siehe Abbildung 2).
Bei den Zielländern hatten die EU10-Bürger unterschiedliche Präferenzen: Die beliebtesten Ziele waren Spanien und Italien (vor allem für Rumänen) sowie das Vereinigte Königreich und Deutschland (für Polen).
Dagegen waren die Mobilitätsströme zwischen den EU15-Mitgliedstaaten zu vernachlässigen: Nur rund 0,1 Prozent der EU15-Bürger gingen 2009 in ein anderes EU-Land. Um mehr Arbeitskräfte anzulocken waren die Einkommensunterschiede zwischen den EU15-Ländern nicht groß genug. Zudem waren die Arbeitslosenquoten in diesen Mitgliedstaaten niedrig und näherten sich in der Vorkrisenzeit einander an – dadurch schwächten sich die Mobilitätsanreize.
Die Finanz- und Schuldenkrise und der Anstieg der Arbeitslosigkeit in den EU15Ländern bremsten die Mobilitätsströme aus den EU10-Ländern. Seit 2011 hat sich die Ost-West-Mobilitätsströme wieder verstärkt, doch bleiben die Quoten unter dem Vorkrisenniveau (OECD 2013).
Bezeichnenderweise führte die Krise zu einer Umlenkung der Mobilitätsströme fort von der Peripherie (Spanien vor allem) nach Deutschland, in das Vereinigte Königreich und nordeuropäische Länder. Zwar sanken die Netto-Zuwanderungsquoten in den Peripherieländern, eine Veränderung hin zur Nettoabwanderung vollzog sich jedoch nur langsam. Bei dieser Zieländerung hat vermutlich auch das Ende der vorübergehenden Beschränkungen der Freizügigkeit eine Rolle gespielt.
Hohe Arbeitslosenquoten in der Peripherie steigern Mobilität kaum
In den EU15-Ländern hat die Krise zu einer deutlichen Umkehr der wirtschaftlichen Konvergenz geführt. Die sich verschlechternde Arbeitsmarktsituation in Südeuropa, insbesondere für jüngere Menschen, führte zu verstärkten Abwanderungen aus diesen Ländern, wenngleich die absoluten Zahlen niedrig blieben. Nach fünf Jahren Krise sind die Nettoabwanderungsquoten bei Spaniern und Italienern nur leicht auf knapp 0,1 Prozent gestiegen. Griechen und Portugiesen sind etwas mobiler: Hier liegt die Nettoabwanderung bei rund 4 Personen je 1 000 Staatsbürger. In Irland ist die Mobilität größer, wahrscheinlich aufgrund der Bindungen an Großbritannien und der gemeinsamen Sprache (siehe Fokus).
Insgesamt sind Lohnunterschiede offenbar ein viel stärkerer Motor für Mobilität als die Arbeitslosenquoten in der EU. Dies und die Daten zu jüngeren Geburtsjahrgängen lassen eine nur begrenzte Mobilität in den EU15 erwarten, selbst bei der derzeitigen Wirtschaftslage. Zudem reagiert die Arbeitsmobilität nur äußerst verzögert und ist damit ein ineffizienter Anpassungsmechanismus in der Währungsunion (Holland und Paluchowski 2013).
3. Langfristige ökonomische Auswirkungen der Mobilität ungewiss
Die mittel- und langfristigen Kosten und Nutzen der Arbeitsmobilität auf Ebene der Mitgliedstaaten hängen von verschiedenen Faktoren ab, nicht zuletzt davon, ob es sich um Herkunfts- oder Zielländer handelt. In den Zielländern drehen sich die Diskussionen um Bedenken hinsichtlich der finanziellen Lasten, die mobile Arbeitskräfte für den Sozialstaat bedeuten können, insbesondere weil der Zugang zu Sozialleistungen zuweilen als zu einfach gilt. Der Gesamtbestand an EU10-Bürgern, die in EU15-Ländern leben, sollte aber kein Anlass zu Befürchtungen sein (siehe Abbildung 3): In den meisten Ländern liegt der Anteil der EU10-Bürger unter oder um 2 Prozent. Des Weiteren zeigen die vorliegenden Forschungsergebnisse, dass Sozialleistungen im Aufnahmeland kein bedeutender Anreiz für Zuwanderung sind. Hingegen wandern die meisten EU-Bürger aus beruflichen Gründen, sind relativ selten arbeitslos und nehmen Sozialleistungen nicht stärker in Anspruch als Einheimische (Europäische Kommission 2013).
Selbst die anscheinend geringe Arbeitsmobilität in der EU wird in den letzten Jahren kontrovers diskutiert.
In den Herkunftsländern herrschen vor allem Bedenken, dass gerade die Besten auswandern und damit die Humankapitalbasis, langfristiges Wachstum und die Entwicklung schwächen könnten. Im Falle der EU15-Peripherieländer bedeuten begrenzte Mobilitätsströme und hohe Arbeitslosenquoten, auch für hochqualifizierte Arbeitskräfte in diesen Ländern, dass Befürchtungen um einen so genannten „Braindrain“ derzeit unberechtigt sind. Allerdings könnte in einigen EU10-Ländern eine Fortsetzung früherer Trends, in Verbindung mit einer begrenzten Rückkehrmobilität, die Wirtschaftsentwicklung langfristig beeinträchtigen (siehe Abbildung 4).
Die Prognose von zukünftigen Mobilitätsströmen ist zwar schwierig, doch wird das Mobilitätspotenzial in der EU mittelfristig wohl abnehmen, da sich das Einkommensniveau in Ost und West weiter angleichen und die europäische Erwerbsbevölkerung zunehmend altern wird. Notwendig werden deshalb Maßnahmen, die die Attraktivität der EU auch für ausländische Talente steigern und die Mobilität von Drittstaatsangehörigen fördern.
4. Optimierung vorhandener Instrumente …
Insgesamt hat die vergangene Rezession kaum zu mehr Mobilität geführt, zumin- dest nicht in den größeren Mitgliedstaaten. Dies lässt den Schluss zu, dass eine erfolgreiche Politik zur Förderung der Mobilität in den EU15-Ländern enorme Anstrengungen erfordert.
Generell sollten mobilitätsbereite Bürger nicht durch unnötige Hindernisse von ihrem Plan abgehalten werden. Die Europäische Kommission sollte die Modernisierung der vorhandenen Instrumente weiter vorantreiben. Dazu gehören:
Modernisierung des EURES-Netzwerks
EURES („EURopean Employment Services“) ist ein Kooperationsnetz von nationalen Arbeitsagenturen, das die Mobilität von Arbeitnehmern im Europäischen Wirtschaftsraum fördern soll. Neben einem Netzwerk von Beratern unterhält es auch eine europaweite Jobbörse. Bis vor kurzem fand das EURES-Online-Portal noch wenig Beachtung – dort waren nur 30 Prozent bis 40 Prozent aller freien Stellen in der EU erfasst. Die jüngst vorgeschlagene Neuorganisation des EURES-Systems ist ein Schritt in die richtige Richtung, ebenso die Vorschläge, eine bessere Abstimmung zwischen den öffentlichen Arbeitsvermittlungen zu fördern und von Best Practices im Bereich Mobilität und grenzübergreifende Rekrutierung von Arbeitnehmern zu lernen.
Anerkennung und Übertragbarkeit von Qualifikationen
Mit der jüngsten Änderung der Richtlinie über die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen hat die EU die Anerkennungsverfahren erleichtert und den europäischen Berufsausweis eingeführt. Durch die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht sollten die Mitgliedstaaten eine Beschleunigung und Vereinfachung der Anerkennungsprozesse anstreben. Fortschritte beim Europäischen Qualifikationsrahmen, der noch nicht gänzlich umgesetzt ist, werden zu einer größeren Transparenz beitragen.
Von lokalen und regionalen Mobilitätsinitiativen lernen
Einen reichen Erfahrungsschatz bieten die zahlreichen regionalen Projekte vor allem in Deutschland, die auf die Anwerbung von Arbeitnehmern aus dem Ausland zielen, insbesondere aus Spanien und anderen südeuropäischen Ländern. Solche Projekte vernetzen KMU, die allein nicht in der Lage sind, ihre freien Stellen mit ausländischen Arbeitsuchenden zu besetzen. Da die Stärke dieser Projekte in ihrem Bottom-up-Ansatz liegt, sollte die EU ihren Erfolg genau auswerten, Lehren aus den Best Practices ziehen und auch eine institutionelle Unterstützung über den ESF in Betracht ziehen.
Allerdings wird mit keiner dieser Maßnahmen das Rad neu erfunden. Dass sich die Kommission dessen bewusst ist, drückt sich auch in dem höchst bescheidenen Ziel für die Initiative „Dein erster EURES-Arbeitsplatz“ aus: 5 000 junge Menschen sollen dadurch vermittelt werden. Die Initiative hilft Arbeitssuchenden unter dreißig Jahren, einen Job in einem anderen Land zu finden, unter anderem durch finanzielle Unterstützung für Bewerbungsgespräche.
5. … und in längeren Zeiträumen denken
Der Abbau von Mobilitätsbarrieren und die Unterstützung mobiler Bürger wird ein dynamischer Prozess ohne Patentlösungen bleiben. Drei Dinge verdienen nähere Betrachtung, wenn es um die weitere Integration der europäischen Arbeitsmärkte und – gleichermaßen wichtig – ein besseres Verständnis der Auswirkungen der grenzüberschreitenden Mobilität geht.
Verbesserung fremdsprachlicher Kompetenzen
In den meisten EU-Mitgliedstaaten steht Englisch als erste Fremdsprache auf den Lehrplänen. Hinsichtlich der tatsächlichen Leistungen gibt es allerdings erhebliche Unterschiede. Schon für sich genommen wichtig, sollte der gesteigerte Stellenwert der Mobilität auch dem Ziel „Muttersprache plus zwei Fremdsprachen“ sowie der „European Benchmark of Language Competences Initiative“ neue Impulse geben.
Mobilität Drittstaatsangehöriger
Hindernisse für die Mobilität von Drittstaatsangehörigen gibt es reichlich, was für die EU im internationalen Wettbewerb um neue Qualifikationen und Talente von Nachteil ist. Dennoch zeigen sich die Mitgliedstaaten bislang wenig geneigt, die (optionalen) EU-Erleichterungen für langfristig Aufenthaltsberechtigte, Inhaber der Blauen Karte EU, Studenten und Wissenschaftler vollständig zu nutzen. Die Kommission sollte anstreben, die vorhandenen Richtlinien zu verbessern und ein Verwässern ihrer Vorschläge für Studenten und Wissenschaftler zu vermeiden.
Bedarf an besseren Daten
Nach mehr und besseren Informationen wird immer verlangt, aber im Falle der Arbeitsmobilität ist es wirklich gerechtfertigt. Es gibt auf europäischer Ebene kaum hinreichende Daten etwa dazu, worin die größten Hindernisse bestehen (insbesondere in der aktuellen Wirtschaftslage), auch nicht zur Rolle der Rückwanderung oder der im Ausland erworbenen Qualifikationen. In einzelnen Mitgliedstaaten sind zwar Statistiken verfügbar, in anderen Fällen ist es jedoch schwer, an geeignete Daten zu gelangen. Die EU-Kommission muss Wege finden, wie diese Situation verbessert werden kann, nicht zuletzt um den zusätzlichen Nutzen bzw. Mobilitätsgewinn durch europäische Initiativen wie „Dein erster EURES-Arbeitsplatz“ aufzuweisen.
Verglichen mit den USA ist die Arbeitsmobilität in der Europäischen Union tatsächlich gering: Kaum drei Prozent der EU-Bürger wohnen derzeit in einem anderen EU-Land
In der Krise ist klar geworden, dass das Potenzial der Arbeitsmobilität in der derzeitigen Eurozone (noch) begrenzt ist. Dies liegt vor allem an der eingeschränkten Mobilität von Staatsbürgern der großen von der Krise betroffenen Länder. Selbst deutlich verschlechterte Beschäftigungschancen in einigen Ländern motivieren nicht mehr Menschen zur Mobilität, was zeigt, dass wir uns von einer künftigen Beseitigung administrativer Hindernisse nicht zu viel erwarten sollten – zumindest nicht kurzfristig.
Literatur
Barslund, M. und Busse, M. (2014), Making the Most of Labour Mobility, CEPS, Brussels. Bertelsmann Stiftung (2014) (ed.), Harnessing European Labour Mobility, Gütersloh. Holland, D. und Paluchowski, P. (2013), Geographical labour mobility in the context of the crisis, European Employment Observatory, Birmingham. Baas, T und Brücker, H. (2012), The macroeconomic consequences of migration diversion – evidence for Germany and the UK. In: Structural Change and Economic Dynamics, Vol. 23, No. 2, p. 180-194. European Commission (2013), ‘Free movement of EU citizens and their families: Five actions to make a difference’, COM(2013) 0837 final, Brussels. OECD (2013), International migration outlook 2013, OECD Publishing, Paris. Holland, D., Fic, T., Rincon-Aznar, A., Stokes, L. und Paluchowski, P. (2011), Labour mobility within the EU – The impact of enlargement and the functioning of the transitional arrangements, National Institute of Economic and Social Research (NIESR), London.
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