Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) gilt bei Umweltschützern als das Gewissen der Gesellschaft. Derzeit hat sie über 20 Klimaklagen auf Bundesebene in zehn Bundesländern und gegenüber drei Industriekonzernen erhoben, wie der Geschäftsführer Jürgen Resch im Interview sagt. Der Grund: Staatliche Einrichtungen hielten sich nicht an die von ihnen selbst geschaffenen Gesetze und Verordnungen. Dass die Deutsche Umwelthilfe oft vor höchsten Gerichten gewinnt, zeigt, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Doch das sehen nicht alle so …
? Die Deutsche Umwelthilfe engagiert sich bei den Themen Nachhaltigkeit im Klimaschutz, Naturschutz und im Umweltschutz. Worin bestehen Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen in diesem Jahrzehnt und darüber hinaus?
Jürgen Resch: Wir können es auf zwei große Themen zuspitzen. Erstens auf den Klimaschutz, also auf die Verhinderung einer katastrophalen Erwärmung der Erde. Zweitens – und teils damit verbunden – ein Artensterben, wie wir es seit Menschengedenken noch nicht erlebt haben. Der Klimawandel wurde durch Eingriffe des Menschen vor allem in den Bereichen Energie, Siedlung, Landwirtschaft und Verkehr verursacht. Die Deutsche Umwelthilfe kämpft deshalb dafür, dass die roten Linien, die Wissenschaft und internationale wie nationale Klimaverpflichtungen definiert haben, auch eingehalten werden. Wir versuchen, in Deutschland und darüber hinaus Wege aufzuzeigen und Maßnahmen durchzusetzen, die notwendig sind, damit wir unsere Verpflichtungen zur Erhaltung der Artenvielfalt erfüllen können und vor allem, damit die Ziele des Pariser Klimaabkommens eingehalten werden. Und das ist kein Selbstzweck: Es geht um nicht weniger als das Überleben auf diesem Planeten.
? Die DUH gilt nicht nur als unbequem, sondern auch als besonders klagefreundlich. Sie kämpft seit mehr als vier Jahrzehnten neben dem Schutz der Arten und dem Schutz der Umwelt für saubere Luft, sauberes Grundwasser und in den letzten Jahren besonders für die Einhaltung der Dieselabgasnormen. Sie sagten in einem Interview: „Einmischen ist unsere Aufgabe.“ Sehen Sie Ihre Organisation als das Umweltgewissen der Gesellschaft?
Jürgen Resch: Ja, wir sind ein Teil des Umweltgewissens. Als Umweltorganisation setzen wir uns gemeinsam mit anderen Organisationen und Bürgerinitiativen für Menschen und Umwelt ein, und wir sehen es als unsere Aufgabe an, dass wir zum Beispiel gegenüber mächtigen Wirtschaftsinteressen die Interessen der Menschen und der Natur verteidigen und durchsetzen.
? Was hat sich seit Beginn Ihrer Arbeit für die DUH im Jahr 1986 verändert?
Jürgen Resch: Zu Beginn meiner Tätigkeit konnte sich die DUH darauf konzentrieren, Gesetze zum Schutz von Umwelt und Natur einzufordern und auf deren Einhaltung zu bestehen. Wir mussten auch damals ab und zu klagen, aber es reichte aus, einen Warnschuss an die Regierung oder die Industrie abzusetzen. Gerichtsentscheidungen wurden in der Regel beachtet. Beginnend mit der Regierung Merkel im Jahr 2005 haben wir erlebt, dass zunehmend Gesetze für den Staat keine Bedeutung mehr hatten. Deswegen sind wir von Jahr zu Jahr immer häufiger vor Gericht gezogen, um die Einhaltung von Schutzgesetzen für Mensch und Umwelt gegenüber dem Staat durchzusetzen. Beispiele waren die Durchsetzung des Dosenpfandes zum Mehrwegschutz, der sauberen Luft in unseren Städten durch Musterklagen betroffener Bürger und später der DUH selbst.
? Sie waren mit Ihren Klagen auf Einhaltung von Gesetzen meist sehr erfolgreich?
Jürgen Resch: Ja, aber wir erleben, dass wir vor Gericht Recht bekommen und die verurteilten Täter – in vielen Fällen Landes- und Bundesregierungen – sich anschließend darüber beschweren, dass sie beim Rechtsbruch ertappt und zur Einhaltung von Recht und Gesetz verurteilt wurden. Und noch viel schlimmer – wir werden auch noch als semikriminell hingestellt. Das ist etwa so, als wenn ein Dieb die Polizei beschimpft, warum sie am Feiertag unterwegs ist und er deshalb die Bank nicht ungestört ausrauben kann. Wir haben inzwischen die Situation, dass der Staat sich erdreistet, eine Klimaschutzverpflichtung, die er 2015 in Paris eingegangen ist, einfach nicht umzusetzen, und dann auch noch behauptet: „Wir sind Weltmeister und Vorbild für den Klimaschutz.“ Das passt nicht zusammen.
? Hier versucht die Deutsche Umwelthilfe, ein Stoppschild zu setzen?
Jürgen Resch: Wir klagen und kämpfen dafür, dass staatliche Einrichtungen Gesetze einhalten. Und damit komme ich auch schon zu den Klimaklagen. Wir mussten gemeinsam mit jungen Klägerinnen und Klägern sowie schon heute vom Klimawandel betroffenen Menschen aus Bangladesch und Nepal bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, das uns bereits am 29. April letzten Jahres in unseren beiden Verfassungsbeschwerden Recht gegeben hat, dass sowohl das Klimaschutzgesetz als auch die beschlossenen Maßnahmen nicht ausreichend sind. Das, was wir als gesetzliches Regelwerk haben, reicht nicht aus. Ebenso wie die Maßnahmenkataloge, die selbst, wenn sie umgesetzt würden, nicht ausreichen, wenn Deutschland seinen Verpflichtungen nachkommen will. Das Erschreckende ist für mich, dass als Folge solcher Gerichtsentscheidungen, also höchstrichterlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts oder des Europäischen Gerichtshofes, die Bundesregierung nicht sagt: Jetzt machen wir alles, was geht.
? Womit sollte Deutschland beginnen?
Jürgen Resch: Deutschland könnte bei den Nachbarn orientieren. Um die Verpflichtungen der Luftreinhaltung und den Klimaschutz einzuhalten, haben die Niederlande Tempo 100 tagsüber auf der Autobahn als Höchstgeschwindigkeit festgelegt, um die Emissionen zu senken. In Deutschland ist die Forderung, ein Tempolimit auf der Autobahn einzuführen, selbst für grüne Politiker eine Zumutung. Da sprach man vor der Wahl plötzlich nicht mehr von Tempolimit, sondern von Sicherheitsgeschwindigkeit, und sagt auch gleich: Na, so wichtig ist das aus Klimaschutzgründen nicht. Und bereits vor Beginn der Sondierungsgespräche erklärten die Grünen, nicht auf ein Tempolimit zu bestehen.
Wir alle haben in den nächsten Jahren die Verpflichtung, der Politik und sicherlich auch vielen Bürgern klarzumachen: Wenn wir es ernst meinen mit der Erhaltung der Artenvielfalt und dem Klimaschutz, dann wird dies zu massiven Änderungen in unserem Verhalten führen. Aber es ist möglich und der erste Schritt wäre, das umzusetzen, was andere Staaten um uns herum zum Klimaschutz bereits erfolgreich tun.
? Sie sagten, dass die DUH und deren Mitarbeiter als Semikriminelle hingestellt werden, wenn sie Klagen gewinnen. Sie sind ein prominenter Verantwortlicher der Deutschen Umwelthilfe. Waren Sie schon persönlichen Angriffen ausgesetzt von Menschen, die den Klimawandel leugnen oder das Tempolimit ablehnen?
Jürgen Resch: Ich habe den Eindruck, dass in normalen Auseinandersetzungen keine Gefahren bestehen. Aber es gibt natürlich Themen, wie beispielsweise beim Feuerwerkverbot oder beim Tempolimit, da gibt es robuste Diskussion und da fallen auch harte Worte. Was mir Sorgen bereitet, ist, dass in bestimmten politischen Kreisen, also sehr weit rechts bei der AfD und darüber hinaus, mittlerweile zum Teil ganz offene Hetze betrieben wird – gegenüber Institutionen wie der DUH, aber auch sehr persönlich gegen Menschen. So existieren auf Facebook zwei organisierte Hass-Gruppen mit 60.000 Mitgliedern zum „Stopp der Deutschen Umwelthilfe“. Hier wird offen zu Gewalt gegen mich und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der DUH aufgerufen.
? Hat die Bedrohung eine neue Qualität erreicht?
Jürgen Resch: Ja. In dieser Form gab es so etwas früher nicht. Und das geht nicht nur uns so. Im Moment erleben auch viele Kommunalpolitiker oder Landes- und Bundespolitiker eine solche Bedrohung. Der offene Hass richtet sich zunehmend eben auch gegen Personen oder Institutionen, die sich für den Klimaschutz einsetzen. Früher wurden kritisiert. Das war und ist OK. Heute verdienen soziale Netzwerke viel Geld damit, solche Foren zu ermöglichen, in denen praktisch täglich Gewalt- bzw. Todesbedrohungen gegen mich veröffentlicht werden. Ich weiß nicht, wo das noch hinführen soll.
? Im Dezember, kurz vor Jahresende, hat die EU die Atomkraft als grüne Energie eingestuft. Wie bewerten Sie diese erstaunliche Einstufung? Hat Sie das überrascht?
Jürgen Resch: Bis jetzt ist es nur ein Vorschlag …
? … es hat Sie nicht überrascht?
Jürgen Resch: Frankreich war immer ein in Brüssel besonders dominanter Mitgliedsstaat. Und die Kommission schlägt vor, was starke Mitgliedstaaten in sie hineintragen. Und wenn es hier sehr starke Interessen gerade von Frankreich gibt, die Atomenergie zu fördern, dann verwundert es mich nur eingeschränkt, dass die Kommission dem nachgibt.
? Finden Sie nicht, dass das ein absolut falsches Signal ist?
Jürgen Resch: Ich finde es verheerend! Umso mehr, als dieser Vorschlag mit Ansage kam. Die abgewählte Bundesregierung hat im vergangenen Jahr durch die Unfähigkeit, gemeinsame Positionen zwischen CDU/CSU und SPD zu finden, letztendlich dazu beitragen, dass Frankreich seine Lobbyarbeit für die Atomkraft so erfolgreich betreiben konnte. Seit Jahren musste sich Deutschland in vielen Fragen in Brüssel enthalten, weil es keine gemeinsame Haltung der Bundesregierung gab. Und in der Folge auch kein Werben bei anderen EU-Staaten. Nun ist es Frankreich gelungen, eine klare Mehrheit der Mitgliedsstaaten auf Atomkurs zu bringen.
? Wir hatten doch in der vorigen Regierung eine engagierte SPD-Umweltministerin …
Jürgen Resch: Wird gesagt.
? Nicht?
Jürgen Resch: Die Frage ist nicht nur, ob jemand engagiert ist, das war Svenja Schulze sicher und auch Barbara Hendricks. Aber die Frage der Wirkmächtigkeit messe ich nicht an schönen Reden, sondern an dem, was herauskommt. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, in denen Umweltminister mit Rücktritt gedroht und angekündigt haben: Hier mache ich nicht mehr mit! Das hat mir in der Regierung unter Angela Merkel zunehmend gefehlt, auch bei den SPD-Umweltministerinnen. Wo war das Gegengewicht zum Wirtschaftsminister oder das Gegengewicht zum Verkehrsminister – bei den Themen sauberer Luft, Dieselgate und im Klimaschutz? Wo das wirkmächtige Gegengewicht zur Landwirtschaft oder auch in der Abfallvermeidung? Wir haben in Deutschland in den letzten Jahren eine relativ kraftlose Umweltpolitik erlebt – und das muss sich dringend ändern.
? Könnte sich das mit der neuen Umweltministerin von Bündnis 90/Die Grünen ändern?
Jürgen Resch: Ich bin sehr glücklich, dass die neue Umweltministerin eine Vollblutumweltschützerin und Politikerin mit großer Erfahrung ist. Ich drücke ihr die Daumen, dass sie es schafft, tatsächlich umzusetzen, was sie sich vorgenommen hat. Wird es ihr gelingen, sich gegenüber den im Kabinett sehr viel mächtigeren Kollegen und Kolleginnen durchzusetzen, die Wirtschaftsinteressen vertreten? Wir werden auch sie daran messen, was sie erreicht und durchsetzt.
? Ursula von der Leyen hat den Ehrenpreis des deutschen Nachhaltigkeitspreises bekommen für ihr Engagement beim europäischen Green Deal, der die EU bis 2050 klimaneutral machen soll. Vor dem Hintergrund der Entscheidung, Atomkraft als grüne Energie einzustufen, mindestens bemerkenswert …
Jürgen Resch: Man muss sich anschauen, wer einen solchen Preis vergibt. Wer sind die Sponsoren, die Finanziers und welche Tradition hat ein solcher Preis? Jenseits dieser Frage bin ich sehr gespannt, wie die finale Umsetzung der EU-Initiative „Fit for 55“* letztendlich aussehen wird. Wir erleben gerade einen Anstieg der Energiepreise, etliche Lobbys nutzen das, „Fit for 55“ abzuschwächen. Uns geht es im Deutschland im Vergleich zu den allermeisten anderen EU-Staaten wirtschaftlich und sozial gut. In anderen EU-Staaten gibt es noch sehr viel grundsätzlichere Probleme. Deshalb drücke ich Frau von der Leyen und der Kommission die Daumen, dass ihr der Nachhaltigkeitspreis hilft, ein „Fit for 55“ Programm mit ausreichender Substanz auch zu verabschieden.
? Sie klingen nicht sonderlich hoffnungsvoll.
Jürgen Resch: Wir sehen sowohl an der Taxonomie im Bereich Atomenergie wie auch beim Erdgas, dass mit dem Begriff Nachhaltigkeit Schindluder getrieben werden soll. Die FAZ berichtete im Januar, dass von 500 Milliarden Euro für die Atomenergie gesprochen wird, die so mobilisiert werden sollen. In seiner ehrlichen Bilanz am 11. Januar haben wir von Minister Habeck gehört, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien in den vergangenen Jahren extrem heruntergefahren wurde. Der Ausbau der Windenergie ist unter Peter Altmaier fast zum Stillstand gekommen. Und plötzlich tauchen die Monster Atomenergie und fossile Gasenergie auf und sollen als „nachhaltige Energien“ gefördert werden.
? Hat Sie das erschüttert?
Jürgen Resch: Diese Wette auf die neuen Atomkraftwerke wird nicht aufgehen, auch nicht mit 500 Milliarden Euro. Alle Versprechen, dass sich so eine CO2-freie Energieerzeugung erreichen lässt, sind einfach Unsinn. Atomenergie ist extrem teuer, auch kleine Atomkraftwerke produzieren Müll. In den kommenden zwei Jahrzehnten müssen wir eine CO2-freie Energieversorgung erreichen. Es ist ausgeschlossen, dass daran die Atomkraft einen wesentlichen Beitrag leisten wird.
? Die Argumentation der Befürworter von Atomstrom ist aber, dass Atomstrom CO2-neutral ist.
Jürgen Resch: Es werden aber bei uns keine neuen AKWs gebaut. In Deutschland ist die Wiedereinführung der Atomenergie meines Erachtens gesellschaftlich nicht denkbar. Zum Glück!
? Kann das Klimaziel bis 2030 erreicht werden?
Jürgen Resch: Die Deutsche Umwelthilfe hat über 20 Klimaklagen auf Bundesebene, in zehn Bundesländern und gegenüber drei Industriekonzernen erhoben. Wir haben uns in diesem Zusammenhang angeschaut: Wie hoch ist das verbleibende CO2-Budget? In vielen Bundesländern sieht es so aus, dass wir vor dem Jahr 2030 das verbleibende CO2-Kontingent aufgebraucht haben. Dann müsste man eigentlich alles runterfahren.
? Das ist aber nicht machbar …
Jürgen Resch: … deshalb hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt: Nicht nur das Klimaschutzgesetz muss nachgeschärft werden, wir müssen jetzt noch schneller runter mit den CO2-Emissionen, damit der Moment des absoluten Ausstiegs aus allen CO2-Emittenten noch etwas nach hinten verlagert wird. Wenn jetzt 500 Milliarden Euro in Atomkraftwerke investiert werden – meine Güte, was bindet das an Kapital, aber auch an Ingenieuren und an Verwaltungskapazitäten, die uns für den Aufbau der kurzfristig verfügbaren Wind- und Solarenergie fehlen. Welche Folgen der faktische Stopp bei der Windkraft hat, haben wir vor wenigen Monaten erlebt, als erneut ein großer Hersteller von Windkraftanlagen Konkurs angemeldet hat. Das sind zusammen fatale Signale.
? Den Menschen im Land ist aber der Energiepreis enorm wichtig. Rückt deshalb die Atomenergie wieder in den Fokus?
Jürgen Resch: Wir sind bei der Windenergie bei Kosten von fünf bis sechs Cent angelangt. Wenn ich mir anschaue, dass der Atomstrom bei derzeit in Bau befindlichen Kraftwerken in Finnland und England um ein Mehrfaches teurer ist, verstehe ich nicht, welche Lösung das sein soll. Für die nächsten 20 Jahre wird Atomenergie schon deshalb keine Lösung sein, weil diese angeblichen „Wunder-Atomkraftwerke“ noch nicht einmal als Funktionsmodell entwickelt sind. Bis so etwas technisch ausgereift ist und über Genehmigungsverfahren gebaut und in Betrieb genommen wird, sind wir weit im Jahr 2040.
Und wenn wir es bis dahin es nicht geschafft haben, auf andere Art und Weise CO2-neutral zu wirtschaften, brauchen wir keine Atomkraftwerke mehr. Und natürlich ist die Frage der Atommülllagerung weiterhin ungeklärt, die die EU bequemerweise auf 2050 schieben möchte. Wir wissen ja, was früher gemacht wurde: Man hat den Atommüll einfach im Meer entsorgt – mit all den Folgen, die wir ebenfalls kennen. Atomenergie hat so viele andere Probleme, dass sie keine Lösung für die Klimakrise bedeutet.
? Welche nachhaltigen Maßnahmen gäbe es noch, um schnelle Klimaneutralität herzustellen?
Jürgen Resch: Ein naheliegendes Instrumentarium, das leider nicht genutzt wird: Gebäude haben Dächer und Fassaden. Alle Dachflächen und viele Fassadenflächen können mit PV-Modulen belegt und so zur Stromerzeugung genutzt werden. Das Wichtigste ist allerdings, Energieverbrauch durch höhere Effizienz einsparen, und da sind gerade im Gebäudebereich jährlich sehr hohe CO2-Einsparungen möglich. Warum startet die Bundesregierung nicht mit einer Sanierungsoffensive aller Kindergärten und Schulgebäuden, die überwiegend noch unsaniert sind und schnell gedämmt werden könnten? Wir sollten alle Effizienzmöglichkeiten nutzen und das, was wir dann noch an Heizenergie brauchen, tatsächlich regenerativ erzeugen. Warum sind nur ein, zwei Prozent der Dachfläche öffentlicher Gebäude mit Photovoltaik bedeckt? Da braucht es keine langwierigen Genehmigungsverfahren, der Staat kann hier auf allen Ebenen schnell die Energiewende umsetzen, er muss es nur wollen.
Was wir brauchen, ist ein massiver Ausbau erneuerbarer Energien, und zwar jetzt! Eine Photovoltaikanlage ist in vier Wochen auf jedem Dach, und sie ist ab Tag eins produktiv. Wir müssen es schaffen, Windkraftanlagen in einem sehr kurzen Planungs- und Bauprozess zu installieren. Wir müssen es schaffen, auf der Schiene die verbliebenen fast 40 Prozent Strecken bis spätestens 2030 durchgehend zu elektrifizieren. Damit könnten wir weitere Millionen Tonnen CO2 einsparen, weil Elektrozüge effizienter als Dieseltriebwagen sind. Die Schweizer haben bereits seit 30 Jahren praktisch 100 Prozent ihrer Schienenstrecken unter Strom. Der Ausbau in Deutschland erfolgt hingegen so langsam, dass wir 200 Jahre brauchen, bis wir bei 100 Prozent Elektrifizierung der Strecken stehen.
? Man hat den Eindruck, es besteht gar kein Interesse an solchen Maßnahmen.
Jürgen Resch: Es ist häufig kein Interesse da, und es macht der Verwaltung Arbeit. Wir müssen aber einen Weg finden, dass wir die niedrig hängenden Früchte im Klimaschutz zuerst ernten.
? Sind Sie hoffnungsvoll, dass es der Bundesregierung in dieser Ampelkonstellation gelingt, die richtigen Schritte beim Klima, bei der Umwelt und bei der Verkehrswende zu gehen?
Jürgen Resch: Wenn ich sehe, dass selbst ein von mir persönlich sehr geschätzter Wirtschaftsminister als erste Amtshandlung die Förderung von schweren SUVs mit besonders hohen CO2-Emissionen und einem Symbolelektromotor um ein Jahr verlängert hat, obwohl die alte Bundesregierung die Förderung auslaufen lassen wollte – ja, da bin ich etwas fassungslos.
? Wir hatten 16 Jahre einen CSU-Bundesverkehrsminister, den die Schiene offensichtlich überhaupt nicht interessiert hat. Er hat das Budget seines Ministeriums vorwiegend in den Ausbau von Autobahnen gesteckt …
Jürgen Resch: … und in bayerische Straßen. Autobahnen hat er besonders gern gebaut, aber auch andere Straßen.
? Wir haben auf 70 Prozent aller deutschen Autobahnen kein Tempolimit. Schon im Jahr 2020 titelte der Südkurier: „Jürgen Resch: Das Tempolimit kommt!“ Das Tempolimit kommt aber nicht, weil sich die Grünen schon zu Beginn der Koalitionsverhandlungen gegen ein Tempolimit ausgesprochen haben. Hat Sie dieses frühe Einknicken gewundert?
Jürgen Resch: Die Grünen sind schon viel früher eingeknickt. Als ich 2020 öffentlich das Tempolimit verkündete, sah es wirklich so aus, als hätten die bisherigen Widersacher ihren Frieden mit dem Tempolimit gemacht. Der ADAC hatte seine Kampagne dagegen eingestellt, und noch viel wichtiger: Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat, in dem auch das Bundesverkehrsministerium Mitglied ist, hatte sich erstmals für ein Tempolimit ausgesprochen. Wir als Deutsche Umwelthilfe haben das koordinierend mit Polizeigewerkschaft und Unfallopferverbänden begleitet. Der Rückenwind war da. Robert Habeck und Annalena Baerbock haben im Herbst 2020 sehr mutig verkündet: „Es wird keinen Koalitionsvertrag mit den Grünen geben ohne Tempolimit.“
? Das war ein halbes Jahr später obsolet? Was war passiert?
Jürgen Resch: Die Grünen hatten den Traum, Volkspartei zu werden und wurden vorsichtiger mit vermeintlich kontroversen Forderungen. Sehr schön konnte man das im Frühjahr 2021 sehen, als im Wahlprogramm aus dem Begriff Tempolimit die ‚Sicherheitsgeschwindigkeit‘ wurde. Die Grünen sprachen plötzlich davon, dass das Tempolimit für den Klimaschutz gar nicht so wichtig sei. Es bringe angeblich nur geringe CO2-Einsparungen, aber es wäre nett, wenn man es vielleicht bekäme – wegen der Unfallopfer.
? Die Grünen haben aus Tempolimit „Sicherheitsgeschwindigkeit“ gemacht?
Jürgen Resch: Richtig, sie haben den Begriff Tempolimit fortan nicht mehr als Forderung verwendet. Und zu Beginn der Sondierungsgespräche sendeten die Grünen zwei Botschaften für die FDP. Erstens: Mit uns kann man über alles reden, wir haben keine roten Linien. Zweitens: Am Tempolimit werde eine Ampel-Koalition nicht scheitern. Die FDP hingegen hat auf ihren „Roten Linien“ bestanden – und auch durchgesetzt. So haben die Grünen nicht nur auf ihre ursprüngliche Kernforderung eines Tempolimits verzichtet: Sie haben sogar, und das hat mich dann doch überrascht, sogar zugestimmt, dass die Absage ans Tempolimit im Koalitionsvertrag steht.
Was meine Einschätzung aus 2020 angeht, ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass ein Tempolimit in nächster Zukunft kommt. Da wir aber nicht mehr die Hoffnung haben, es auf politischem Weg zu erreichen, heißt es für uns: Das Tempolimit auf Autobahnen werden wir nun versuchen, auf dem Klageweg durchsetzen. Wir haben am 29. April 2021 vor dem Bundesverfassungsgericht unsere Klimaklagen gewonnen. Die im September 2020 und März 2021 eingereichten Sektorklagen zum Klimaschutzgesetz vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg werden noch in diesem Jahr verhandelt werden.
? Wie muss man sich das vorstellen?
Jürgen Resch: Die Bundesregierung muss in diesem Verfahren nachweisen, dass die bisher ergriffenen Maßnahmen im Verkehrssektor ausreichend sind.
Doch selbst die Fachbehörden der Bundesregierung, wie das Umweltbundesamt, kommen zum Ergebnis, dass die CO2-Emissionen im Verkehrsbereich nicht ausreichend zurückgehen.
Nach unserer Bewertung kann das Gericht nur entscheiden: Die Bundesregierung muss weitere kurzfristig wirksame Maßnahmen ergreifen, und zwar sofort, nicht erst in fünf oder in zehn Jahren. Neben dem Tempolimit sehe ich keine andere Maßnahme, die acht Millionen Tonnen CO2 jedes Jahr einspart, sofort umgesetzt werden kann und nichts kostet.
Die Tempolimit-Diskussion wird uns also nicht nur erhalten bleiben, das Tempolimit wird aus Gründen des Klimaschutzes kommen. Es kann doch nicht sein, dass Deutschland das letzte Raserland dieser Welt ist – neben Somalia, Nordkorea und Afghanistan – die als einzige Flächenstaaten neben Deutschland keine Geschwindigkeitsbegrenzungen haben.
? Um die CO2-Bilanz zu verbessern, haben Norwegen, Dänemark und Schweden gesagt: Ab 2025 werden keine Neuwagen mehr mit fossilen Brennstoffen zugelassen, nur noch Elektroautos. Das ist ein radikaler Schritt, der in Deutschland nicht möglich scheint.
Jürgen Resch: Interessanterweise hat Norwegen das fast schon erreicht.
? Haben Sie die Hoffnung, dass durch den neuen Wirtschafts-und Klimaschutzminister ein Umdenken regierungsseitig kommt?
Jürgen Resch: Was den Ausbau der Erneuerbaren Energien angeht bin ich durchaus hoffnungsfroh. Was die Haltung zur Automobilindustrie angeht weniger. In der Eröffnungsbilanz des Bundeswirtschaftsministers Habeck wird 2035 als deutsches Enddatum für Verbrenner genannt. Allerdings mit dem fatalen und auch nicht mit dem „Fit for 55“ EU-Regelwerk kompatiblen Zusatz, dass auch nach 2035 Verbrenner-Pkw als Neuwagen zugelassen werden sollen, wenn diese auch mit E-Fuels betankt werden können. Das würde bereits für fast alle heute angebotenen Benzin- und Diesel-Pkw gelten. Insofern bin ich nicht sicher, ob ich hoffnungsvoll sein sollte.
? Die Zukunft gehört perspektivisch den alternativen Antrieben. Ist die Elektromobilität die Zukunftstechnologie, die tatsächlich Treibhausgase vermindern kann?
Jürgen Resch: Ja eindeutig. Wir brauchen einen kompletten Ausstieg aus dem Verbrenner in Deutschland bis 2025 und der ist möglich – wie uns Norwegen zeigt. Da wir aber nicht nur eine Antriebs- sondern vor allem eine Verkehrswende brauchen, ist eine Halbierung der zugelassenen Pkw notwendig. Gleichzeitig brauchen wir eine Angebotsexplosion im Bereich öffentlicher Verkehre und das heißt: mehr Busse, Bahn- und Straßenbahnstrecken und Verbindungen. Und vor allem mehr geschützte Radwege und ein anderes Verständnis für das Flanieren und den Fußverkehr.
? Wie gesprächsbereit ist das Verkehrsministerium gegenüber der Deutschen Umwelthilfe?
Jürgen Resch: Es ist uns in den letzten zwölf Jahren unter drei CSU-Verkehrsministern nicht gelungen ein Gespräch zu führen. Alle Gesprächswünsche wurden abgelehnt. Minister Scheuer wurde im Bundestag gefragt, warum er sich Gesprächen der DUH oder anderen Verbänden verweigert. Seine Antwort: Er kenne die Positionen der Umweltverbände aus der Presse. Mit den Autokonzernen trafen sich die CSU-Minister hingegen oft und gerne. Es gab zudem sieben Kanzlerinnen-Gipfel zu Dieselgate. Wir haben es nicht einmal geschafft, auf Arbeitsebene beteiligt zu werden, geschweige denn an den Gesprächen zwischen Politik und Industrie teilzunehmen. Und dass, obwohl wir den Skandal mit aufgedeckt haben. Es ging ja auch um die Folgen für die Luftreinhaltung. Man hat den 40 Städten, die wir beklagt haben, 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt für Busse und andere Maßnahmen zur Luftreinhaltung. Aber nur den Städten, die von uns verklagt wurden. Diese konsequente Nichtbeteiligung der Zivilgesellschaft selbst bei diesem großen Industrie- und Umweltskandal hat eindrucksvoll aufgezeigt, welchen Einfluss die Autokonzerne auf die Bundesregierung haben.
? Wenn Sie jetzt die Waage nehmen: Hat die DUH mehr Befürworter oder mehr Gegner? Wo steht die Waage?
Jürgen Resch: Ganz klar auf der positiven Seite. Wir haben bei den wichtigen Themen sogar die Mehrheit der Menschen hinter uns. 86 Prozent der Menschen fordern einen beschleunigten Ausbau von Wind- und Solarenergie. 66 Prozent unterstützen unsere Forderung nach einem Ende des Silvester-Böllerei und selbst beim Tempolimit ist mit 60 Prozent eine klare Mehrheit der Bürger auf unserer Seite. Aber auch bei unserem Engagement gegen die Massentierhaltung, den Insektenschutz, den Kampf für sauberes Grundwasser und saubere Luft in unsren Städten sehen wir die Mehrheit der Bundesbürger auf unserer Seite.
*Fit for 55 ist ein Paket reformierter und neuer Richtlinien und Verordnungen der Europäischen Kommission zur Klimapolitik der Europäischen Union. Das Paket wurde am 14. Juli 2021 vorgestellt. Mit ihm soll das im European Green Deal verankerte Ziel, den Ausstoß von Treibhausgasen in der EU bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber dem Ausstoß 1990 zu reduzieren und Europa bis 2050 klimaneutral zu machen, erreicht werden.
Deutsche Umwelthilfe
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) wurde vor 46 Jahren gegründet. Sie engagiert sich im Umwelt- und Naturschutz, Verbraucherschutz, auf dem Gebiet der regenerativen Quellen, der Energieversorgung, der Ressourcenschonung und der nachhaltigen Mobilität. Die DUH tritt als Verbraucherschutzorganisation für die Rechte der Bürger in Sachen Umwelt-, Klima- und Naturschutz ein. In den ersten Jahren konzentrierte sich die DUH auf die Finanzierung von Naturschutzprojekten und 1998 entstand unter Mitwirkung der DUH die internationale Umweltstiftung Global Nature Fund (GNF), die sich als internationale Stiftung um den Erhalt von Wasser-Ökosystemen bemüht. Seit 2004 ist die DUH ein klageberechtigter Verbraucherschutzverband und seit 2008 eine klageberechtigte Vereinigung nach dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz. Seitdem macht die DUH von ihrem Klagerecht vor allem beim Klimaschutz regen Gebrauch und setzt damit Bundes- und Landesregierungen unter Druck.
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